"Das Auge auf dem rechten Fleck" oder warum die Madonna in der Felsengrotte zweimal gemalt wurde.

Ausschnitt Felsgrottenmadonna mit visueller Ergänzung
Ausschnitt ohne Ergänzung. Das Lächeln des Mundes am unteren Bildrand wird durch das charakterische Schattenspiel Leonardos im Bereich des linken Mundwinkels erzeugt. Das linke Auge wird durch das Blattwerk verdeckt
Felsengrottenmadonna
Ein Bild, eine Geschichte oder eine Erzählung, die noch (oder besonders) heute in den Medien widerhallt, und die zu vielerlei Spekulationen und Mutmaßungen verleitet, stellt sich mit der Felsengrottenmadonna vor: Die Darstellung, deren erste Fassung Leonardo in den achtziger Jahren des Quattrocento malte, bietet sehr viel Spielraum für Interpretationen, Intentionen und Provenienzforschung. Die Entdeckung einer zuvor unbekannten Unterzeichnung in London 2005, wo die zweite Fassung aufbewahrt wird, ist nur ein Beispiel für die andauernde kunsthistorische Debatte.

1899 hielt zum Beispiel Aby Warburg eine Vortragsreihe über Leonardo in der Hamburger Kunsthalle, die Ernst H. Gombrich in seiner "intellektuellen Biografie" zu Warburg als grossen Erfolg bezeichnet. Warburg kennzeichnet hier "den Trend" der Renaissance mit einem fullminanten Absatz: "Die mittelalterliche Kunst bedurfte der überlieferten Stellung oder sogar des beigefügten geschriebenen Wortes, um die Figuren im Bilde verständlich zu machen; die neue Kunst der Renaissance löst sich aus dem Dienstverhältnis der theologischen Illustration los.

Um L.'s Madonna in der Grotte zu verstehen, "braucht man vom Hergebrachten nur dieses: das menschliche Herz und Auge auf dem rechten Fleck." Es ist gut möglich, dass Warburg hier das "Auge auf dem rechten Fleck" im Gemälde selbst gemeint hat. Er begibt sich hier in die Rolle des "insgeheim Verstehenden", welcher in der Tradition und vielleicht auch im Sinne von Leonardo selbst kommuniziert. Denn hier verwendete Leonardo eine ähnliche "Technik" der "teilverdeckten Ansicht" menschlicher Gesichtszüge, wie er sie in der "Dame mit dem Hermelin" später weiter ausbaute.

Die Idee zu dieser Art der Darstellung von Bildinhalten kann aus sogenannten Frottage-Beobachtungen abgeleitet sein: "Am 10 August 1925," schreibt Max Ernst, "entdeckte ich nach einer unerträglichen visuellen Obsession diejenigen technischen Mittel, dank deren ich diese Lektion Leonardos in die Praxis umsetzen konnte.... " Diese Lektion beinhaltet den von Leonardo so bezeichneten "componimento inculto" - den nicht ausgestalteten Entwurf.
Der Maler folgt hier dem Diktat des Unbewussten, er versucht, mit der Natur eine Art der gegenseitig verstehenden Einheit zu bilden und aus dem "Chaos" heraus neue Strukturen zu gewinnen. Übrigens merkt Leonardo hier an, dass sich an genau dieser Stelle der Maler wie der Dichter verhalte.

Dieses Verhalten kann - wenn man Chastel und Gombrich folgen möchte - zum "Triumph des Subjektiven" führen. Es spricht also einiges dafür, dass Leonardo mit Hilfe einer "Flecken -an - der - Wand - Theorie", die ursprünglich als Hilfsmittel und Kreativpotential für angehende Künstler gedacht war, den Übergang zur "erzählenden Malerei" auf einer höheren, einer neuen Ebene tatsächlich gefunden hat und mittels derer er "Bewegung" und "Zeit" in die Statik der Allegorien seiner Auftragsarbeiten einbringen konnte. Diese Hypothese der "intentionalen Transformation" von bildlichen Inhalten wird mit jeder weiteren "Metaebene", die sich in den Werken Leonardos befindet, wahrscheinlicher. Leonardos Interesse an Wasserbewegungen, Sturm und fluktuativen Strukturen allgemein in seiner späteren Karriere bekommt eine neue, sinnhafte und vor allem motivierte Begründung.

Chastel vermutet, dass Leonardo um das Jahr 1501 beschloss, das "non finito" in die Malerei einzuführen, begründet aus seinen Beobachtungen von Katastrophen, Luftphänomenen und eben jenen Wasserstrukturen, die ihn zu neuen "Formen" brachten. In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch das von Carlo Urbino beschriebene Verfahren zu sehen, dass es Leonardo ermöglichte, "Bewegung" in seine Kunstwerke zu integrieren. "Mit Hilfe eines einzigartigen 'kinetischen Verfahrens' habe Leonardo darin eine 'zeichnerische Analyse- und Darstellungsmethode' der Bewegung entwickelt, das heißt die Bewegung als fortlaufenden Übergang (oder, in Leonardos Formulierung, als "Mutation") aufgefasst, bei dem jede Konfiguration als ein Moment eines ununterbrochenen und unendlichen Prozesses erscheint"
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